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Caring Ethnography - für_sorglich-solidarische Kollaborationen in queer-aktivistischer Ethnografie

29. Oktober 2025

Wie lässt sich Fürsorge als methodische Haltung in der ethnografischen Forschung leben – insbesondere in queeren Feldern? In für_sorglich-solidarischen Kollaborationen zeigt sich, wie Care nicht nur Untersuchungsgegenstand, sondern selbst zur Forschungspraxis wird.

Für_sorgliche Aspekte spielen – wenn auch zumeist nicht explizit – in vielen ethnografischen Forschungen eine wichtige Rolle, da sie essentiell für unsere Beziehungsarbeit und das Wohlergehen aller Beteiligten sind.[1] Für_Sorge, den Europäischen Ethnologinnen Beate Binder und Sabine Hess folgend bewusst in öffnender Begriffssetzung[2], bezieht sich auf das Verantwortungsbewusstsein in Beziehungen von Menschen und Umwelt mit all ihren Abhängigkeiten zur Herstellung und zum Erhalt guter Lebensweisen unter Berücksichtigung der Verletzlichkeit Einzelner und der Fragilität von Gesellschaften[3]. Insbesondere bei kollaborativer und aktivistischer Ethnografie kann ein für_sorgliches und empathisches In-Beziehung-Treten ausschlaggebend für den Zugang sowie den Feldforschungsprozess sein. Mit Fragen wie: “Wie fühlst du dich gerade?”, “Brauchst du eine Pause?”, “Wie ging es dir mit dem Interview?” werden Vertrauen und ein geteilter Erfahrungshorizont innerhalb der Forschungsbeziehungen aufgebaut. 

Als ebenso wichtige Ressource sollte Selbstfürsorge/Self-Care besonders für kollaborative und aktivistische Formate für unsere oft unter prekären Bedingungen stattfindenden Forschungen betrachtet werden. Solche Care-Arrangements helfen dabei, vor allem in sensiblen Feldern die Machtunterschiede und sozialen Ungleichheiten im Feld zu reflektieren und auszubalancieren. 

Während meiner Forschung in den Jahren 2022 bis 2025 zu Zukunftspraktiken und -vorstellungen eines für_sorglich-solidarischen Zusammenlebens im queeren Aktivismus stellte ich mir Fragen danach, wie sich ethnografische Forschungsbeziehungen zu marginalisierten und vulnerablen Gruppen kollaborativ, machtkritisch und nachhaltig – auch über den Feldzugang hinaus – gestalten lassen.

Für_Sorge in/als queere/r ethnografische/r Forschung

Die Bedeutung von Für_Sorge für queere Menschen zeigt sich besonders in zivilgesellschaftlich engagierten und aktivistischen Kontexten in verschiedenen Dimensionen des Alltags[4]. In der aktivistischen Ethnografie zu trans* und nichtbinären Care-Netzwerken zeigt Francis Seeck mit dem Prinzip der “sorgenden Ethnografie” wie durch “mutual caring»[5] neue Modi des In-Beziehung-Tretens entstehen können. Damit beschreibt Seeck eine Art gemeinsame, für_sorgliche Vertrauens- und Beziehungsarbeit, durch die freund:innenschaftliche und aktivistische Interessen gegenseitig adressiert werden. In diesen sich überlappenden interpersonellen wie auch akademischen und politischen “Allyships”, wie es Lisa Tillmann-Healy beschreibt, zeigt sich die Komplexität, die sich aus queerer Forschung innerhalb queerer Beziehungsgeflechte ergeben kann. Sie beschreibt die methodologischen Potenziale von Friendship as Method und plädiert damit in vulnerablen Feldern für freund:innenschaftliche Beziehungsarbeit - basierend u.a. auf “Vertrauen, Ehrlichkeit, Respekt, [...] Verständnis und Akzeptanz”[6]. Diese Forschungshaltung fördert die Ausdrucksfähigkeit, Emotionen und das Einfühlungsvermögen[7]. Insbesondere in queeren Feldern halte ich eine “Ethik der Fürsorge”[8] für eine wesentliche Grundlage für eine solidarische und gleichzeitig kritische Analyse. 

Für_sorglich-solidarische Ethnografie in queeren Bewegungen

So erkenne ich in queer-aktivistischen Kontexten zahlreiche Möglichkeiten für für_sorglich-solidarische Beziehungen, die über traditionelle Forschungsbeziehungen hinausgehen, um die eigene Vulnerabilität und die der Forschungspartner:innen in der Dekonstruktion von Machtasymmetrien zu verweben. In dieser kollaborativen und kritischen Selbstreflexion können wir für_sorglich-solidarisches Forschen nicht nur als methodisches, sondern auch als erkenntnistheoretisches Werkzeug nutzen. 

Für den Zugang zu sensiblen Feldern und vor allem für die Interviewsituationen war und ist meine eigene Positioniertheit im Feld als queerer Forscher, Freund und Aktivist in verschiedenen queeren Communities von großer Bedeutung. So führte ich die qualitativen Interviews an von den Interviewten gewählten “Wohlfühlorten” und startete damit zu fragen, was ihnen bei queerer Forschung wichtig sei und welche Wünsche sie ganz konkret an meine Forschung sowie die spezifische Forschungssituation hätten. Damit bot ich an, Ansprüche sowie Ziele der Forschung sowie Fragestellungen gemeinsam zu gestalten. 

Forderungen waren beispielsweise, “dass queere Forschung auch hauptsächlich von queeren Menschen vorangetrieben wird, weil eine Stimme zu geben weiter wichtig ist, und die Perspektive dann direkt mit einbezogen ist”[9]. In ähnlicher Weise spricht Nilo über “Integrität”[10] in der Forschung: 

“Dass du als queere Person diese Themen für andere zugänglich machst. [...]. Dass man so innerhalb der Community gemeinsam das aufarbeitet und sich umeinander kümmert und Visibilität schafft. Und ich glaube auch so eine Art ‘Nicht-Angst’. [...] Einmal als forschende Person, dass man keine Angst hat, sich preiszugeben, wie auch die Themen, die man versucht zu erforschen. [...] Dass man sich da nicht von so einer Scheu leiten lässt, sondern einfach von dem Interesse an der Transparenz und an der Echtheit des Themas. Und gleichermaßen, wenn man Teil der zu erforschenden Gruppe ist, dass man dann die Sicherheit und den Space hat, dass es ehrlich verbleibt und, ich glaub, dadurch schafft man auch Ehrlichkeit bei der Gruppe, die man versucht zu erforschen. Also so ein gegenseitiges Keine-Angst-Haben in der Angst.”

Nilo

Wilma und Nilo machen sowohl Aspekte der Für_Sorge als auch der Vulnerabilität deutlich. Aufgrund der Situiertheit soll queere Forschung aus der Community für die Community Sichtbarkeit schaffen und eine Stimme geben. Dabei begünstigt Community-Care Empowerment-Strategien zur Förderung von Authentizität für alle in die Forschung involvierten Personen und erzeugt dadurch sichere Räume. Nilo betont dies auch noch einmal auf die Frage am Ende des Interviews, ob they noch etwas loswerden möchte: 

“Ich glaube, wärst du nicht queer, würde dieses Gespräch gar nicht so in der Form stattfinden können, [...] weil wir kennen uns ja eigentlich kaum und sind gar nicht eng, und trotzdem hab ich so dieses ‘Gay Vertrauen’, nennen wir es mal, was man hat bei anderen queeren Personen, dass ich das teilen kann und dass es ok ist. Und das find ich wichtig auszusprechen, weil dieses Gespräch, also diese Dynamik, die Ehrlichkeit auch ausmacht. Es könnte ja auch genug hetero Menschen geben, die sich dann dafür interessieren, [...] aber ich glaube nicht, dass das – zumindest bei mir nicht – diese Form der Ehrlichkeit erreichen würde.”

Nilo

Solche Anrufungen von queerem Vertrauen und Zugehörigkeit finden sich mehrfach in dem erhobenen Material und zeigen die Notwendigkeit engagierter, für_sorglich-solidarischer Forschungsansätze. So muss ich mich in den Forschungsbeziehungen, wie die Anthropologin Ruth Behar schreibt, mit meiner eigenen Vulnerabilität auseinandersetzen und als “vulnerable observer”[11] Verantwortung für die Reproduktion bzw. Dekonstruktion sozialer Ungleichheiten übernehmen. Insbesondere in Schwarzer feministischer und queerer Forschung sind engagiert-aktivistische ethnografische Zugriffe schon lange etabliert[12]. Sie zeigen, wie sich durch Zugehörigkeit und Vertrauen Beziehungsweisen ergeben, die ähnlich wie Freund:innenschaften auch über den Forschungsprozess hinausgehen (können). Dies sehe ich als wichtigen Punkt für eine ethische kollaborative Herangehensweise, da oftmals mit dem Feldausstieg auch die Beziehung endet oder sich zumindest stark verändert. Ein Verbleiben im Feld, z.B. aus aktivistischen oder freund:innenschaftlichen Motiven, stellt oftmals auch ein Zurückführen der Forschungsergebnisse ins Feld in nachhaltiger Weise sicher und kann extraktivistischen Aspekten sowie narzisstischen und einsamen Beziehungen[13] entgegenwirken. 

Eine große Herausforderung für die Umsetzung kollaborativer Formate stellt die hohe Prekarität der Interviewpartner:innen dar. Viele befinden sich in prekären Lohnarbeitsverhältnissen, haben nur wenig Freizeit und Geld. Gleichzeitig motiviert sie ein hoher politischer Anspruch zur kollaborativen Forschung, sodass ich als forschende Person Verantwortung für einen solidarischen und kritischen Umgang mit meiner Forschung trage. Dies wiegt umso schwerer in ohnehin prekarisierten Forschungsvorhaben, wie bspw. in Promotionsprojekten. Selbst- sowie kollektive Für_Sorge werden dadurch wichtige Bestandteile, um überhaupt verantwortungsfähig[14] in Beziehung zu treten. Diese Schwierigkeit adressiert auch hørmie im Interview[15]

“Ein anderer Punkt ist so ein Spannungsfeld aus ‘auf der einen Seite irgendwie Grenzen ziehen’, [...] zu sagen, ‘ich habe dafür keine Kapas [Kapazitäten], ich muss irgendwie auf Self-Care achten’, und auf der anderen Seite Community-Arbeit oder eben Arbeit für irgendwelche [...] Gruppierungen. Und wie Dinge erreicht werden können, wenn alle Leute nur für sich sagen, ich habe keine Kapazitäten mehr und wie damit umgegangen wird, was das dann für Personen bedeutet, die vielleicht dann über Grenzen hinausgehen und was sind zum Beispiel auch die Grenzen in einer Organisation, wenn alle Leute als erstes auf sich selbst gucken?“

hørmie

Die Erzählung zeigt das ambivalente Verhältnis von Self- und Community Care insbesondere in queeren Communities und ein kapitalistisches Spannungsfeld zwischen Produktivität und Für_Sorge sowie neoliberaler Individualisierung und Kollektivismus. Das Einteilen von Kapazitäten, aber auch ein bedürfnisorientierter und für_sorglicher Umgang mit eigenen Ressourcen, um diese wieder “aufzufüllen”, sind in grundlegende, aber nicht minder ambivalente und teils widersprüchliche Praktiken verwoben, die es auszuhandeln und auszuhalten gilt. Besonders in queeren Alltagen scheint ein großer Faktor das Ausbrechen aus kapitalistischen Logiken zu sein, um gegenseitig solidarische und für_sorgliche Beziehungsweisen zu ermöglichen. 

Fazit

Mit dem Ansatz für_sorglich-solidarischer Beziehungsweisen als Forschungshaltung wird die Positioniertheit aller in der Forschung involvierten Personen zur kritischen Erkenntnismethode. Die von Verantwortung und Vertrauen geprägten Beziehungen gehen über rein zweckgebundene, kapitalistisch-produktive, d.h. Datenmaterial generierende Beziehungen hinaus und können auch freund:innenschaftliche Elemente enthalten. Dadurch entstehen zum Teil kreative, affektive und für_sorgliche Elemente, die zu neuen Schlüssen mit dem Feld führen können. Gleichzeitig können sie dazu dienen, Krisen zu überwinden, Hör- und Sichtbarkeit zu schaffen, die Einsamkeit des Forschens aufzulösen, sowie gegen Ungleichheiten anzukämpfen. 

Die Umsetzung solidarischer und für_sorglicher Forschung bleibt jedoch aufgrund zeitlicher, finanzieller und auf Machtstrukturen basierender Limitationen herausfordernd. Diese schränken oft die Möglichkeiten der Verflechtungen von wissenschaftlichem und aktivistischem Wissen und Handeln ein. 

Ein Vorteil solcher praxisorientierten Ansätze ist, dass sie neue, emanzipative Forschungsbeziehungen und einen gemeinsamen Erkenntnisgewinn schaffen können. Jedoch birgt Kollaboration und damit nahe, ggf. freund:innenschaftliche Beziehungen auch die Gefahr, kritische Machtverhältnisse zu verschleiern, statt sie zu offenbaren. Die Herausforderung liegt darin, nicht nur die Haltung zu reflektieren, sondern in einem stetigen Dialog auch Kontinuität und Zugang zu den Erkenntnissen bei den Beteiligten zu gewährleisten. 

Solidarische und für_sorgliche Ethnografie erfordert eine kritische Selbstbefragung und aktive Gestaltung von Care-Praktiken in Forschungskontexten, insbesondere in queeren Feldern. Dies impliziert eine akkurate Balance zwischen empathischer Solidarität und methodischer Strenge, um die ethische und wissenschaftliche Integrität aufrechtzuerhalten. Nur durch eine ausgewogene Herangehensweise können Forschungsergebnisse sowohl akademisch bedeutend als auch gesellschaftlich relevant werden, indem sie zu alternativen Beziehungsweisen beitragen. 

Ein Praxisbeispiel aus Saschas Forschung erscheint in Kürze hier.

Zitation

Sascha Sistenich, Caring Ethnography - für_sorglich-solidarische Kollaborationen in queer-aktivistischer Ethnografie, in: das.bulletin, 29.10.2025, URL: https://ekws.ch/de/bulletin/post/caring-ethnography.

Sascha Sistenich

Sascha Sistenich (er/-) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Abteilung für Empirische Kulturwissenschaft und Kulturanthropologie der Universität Bonn. Sascha forscht und lehrt zu queerer Anthropologie, Aktivismus- und Sozialer Bewegungsforschung, Solidaritäts- und Zukunftsforschung sowie zur Anthropology of the Good und promoviert zu queeren Communities und Aktivismen mit Fokus auf Zukunftsentwürfen fürsorglich-solidarischer Gesellschaftsformen.
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