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Alles ist ein Retelling: Über Zeitlichkeiten, Positionierungen und das Erzählen in Schleifen

17. Dezember 2025

Serafina Andrew

Die EKWS-Tagung 2025 firmierte unter dem Titel «Retelling and Reenacting» und entfaltete sich – kaum merklich zunächst, dann sehr entschieden – als Labor für Narrative: weniger ein Ort der blossen Wissensverbreitung als ein Dispositiv des Herstellens von Sinn. Zwei Tage lang wurden Formen des Erzählens nicht nur besprochen, sondern praktiziert, getestet, ausgestellt; und mit jedem Schritt zeigte sich, dass Erzählen nie neutral ist, sondern eine dichte Konstellation aus Positionierung, Medialität und Zeitlichkeit. Mein Bericht ist deshalb weniger Chronik als Reflexionsfigur: eine Bewegung, die vom Museum der Kulturen Basel (MKB) ausgeht, in Stadtraum, Schreibübungen und Theater überblendet, um wieder zu den Vitrinen zurückzukehren – dorthin, wo sich Materialität, Paratext und institutionelle Stimme begegnen.

MKB: Erzählregime, Paratexte, Sinnesökonomien

Der Auftakt im MKB war methodisch dicht: vier Gruppen, vier Modi der Rezeption: Nur Text; nur Kinderheft; nur Anschauung; nur Auditives. Diese Aufteilung war keine Spielerei, sondern macht sichtbar, wie Ausstellungen erzählen: Sie zerlegte die Ausstellung Alles lebt entlang unterschiedlicher Zugänge zur Wahrnehmung und zwang uns, die Schnittstellen von Medium und Bedeutung zu ertasten. Bereits nach zwanzig Minuten wurde klar: Nicht «der Inhalt» steht im Zentrum, sondern die Formen seiner Vermittlung. Der Text an der Wand, die Stimme im Ohr, die Materialität des Objekts und das Kinderheft als eigener, auf Kinder ausgerichteter Vermittlungszugang bilden paratextuelle Zonen, in denen sich Wahrnehmung fokalisiert und legitimiert.

Die Vermittlerin – im ethnologischen Diskurs verankert – insistierte, Objekte sprächen nicht von selbst; sie benötigten Kontext. Widerspruch. Denn im Licht affekttheoretischer Zugänge – Sinnliches, Atmosphärisches, Affizierendes – lässt sich die Materialität von Dingen nicht als stumm denken. Objekte «sprechen» nicht im semantischen Sinn, aber sie indizieren: Gewicht, Oberfläche, Gebrauchsspuren, Proportionen; sie zeigen, deuten und zitieren frühere Praktiken. Kuratorische Texte sind hier nicht Ursprung, sondern sekundäre Wahrnehmung. Das Museum erscheint als Montageapparat, der Stimmen verteilt, dämpft, verstärkt. In dieser Perspektive ist Kontext kein neutraler Zusatz, sondern Machttechnik: Wer setzt die Frames? Wer bestimmt, welche Lesart als «angemessen» gilt?

Die institutionelle Spannung materialisiert sich im Renaming: vom Völkerkundemuseum zum Museum der Kulturen. Die Umbenennung ist mehr als PR; sie markiert eine semiotische Verschiebung; der Index kolonialer Herkunft soll in eine Ethik der Gegenwart überführt werden. Doch Umbenennung bleibt Performativität ohne Garantie: Sie erzeugt Erwartung an Reclaiming (Rückführungen, Community-Zusammenarbeit), fordert Reframing (kritische Paratexte), verlangt Reenactments (Rituale, die die Anwesenheit der Abwesenden herstellen) – und produziert zugleich neue Unsichtbarkeiten.

Das wurde am Beispiel eines thulu, eines geschnitzten Baumstamms aus Australien, prägnant: Rückführung in die Herkunftscommunity, Ritual im Depot (Video), Replikat in der Ausstellung. Diese drei Ebenen – Objekt, Nachbildung und mediale Vermittlung – erzeugen gemeinsam eine erzählerische Konstellation, in der Authentizität nicht als feste Eigenschaft, sondern als Beziehung verhandelt wird.  Das Video ist dabei eine performative Geste und nicht bloss ein Dokument: ein Akt der Gegenwärtigung (Vergangenheit wird ins Heute geholt) und zugleich ein Affekt-Vermittler (Stimme, Klang, Körperbewegung rahmen Rezeption). Reenactment bedeutet hier nicht «Nachspielen», sondern kontrollierte Wiederholung unter veränderten Machtbedingungen.

Positionierungen: Studienorte, Fachgeschichten, urbane Semantiken

Die Gespräche mit Basler und Zürcher Studierenden legten eine Kartographie der Positionen offen. Basel – Museumsstadt, kuratorisch sozialisiert – blickt stärker auf Institution, Sammlung, kuratorische Ethik. Zürich – mit popkultur- und medientheoretischer Prägung – fokussiert Narrativität, Plattformlogiken, Rezeption. Diese Differenz ist kein blosser Habitusunterschied, sondern verweist darauf, dass Wissen je nach Kontext unterschiedlich gewichtet wird: Was als «relevante» Frage gilt, verschiebt sich mit der Nähe zur Institution. Das MKB ist für Basler Studierende sozialräumlich präsent (gleiche Strasse, alltägliche Sichtbarkeit) – die Ausstellung wird zur lokalen Erzählung über das Fach. Der Rundgang wird zum Metadiskurs: Wir erzählen über Objekte, aber auch über unsere Art zu erzählen.

Stadt als Text: Selektivität, Performativität, Indexikalität

Die Übungen zu Stadtrundgängen führten diese Logik fort. Ein Walk ist nie «neutral»; jede Route ist Schnitt. Auswahl ist Montage, Auslassung ist Bedeutungsproduktion durch Leerstelle. Die Person, die führt, lenkt Aufmerksamkeit und bestimmt, was sichtbar wird. Stimme, Gestik und Tempo prägen, wie Orte gelesen werden und welche Geschichten haften bleiben. Beim Gehen verschmelzen unterschiedliche Zeitebenen miteinander: vergangenes und Gegenwärtiges liegen gleichzeitig übereinander und werden im Stadtraum gemeinsam erfahrbar. Zeit entfaltet sich hier nicht linear, sondern räumlich—sie entsteht im Bewegen durch den Raum.

Schreiben unter Beobachtung: Écriture automatique als performativer Filter

Der Schreibworkshop – zunächst randständig zum Tagungsthema – schob eine zentrale Einsicht nach vorn: Es gibt keine ungefilterte Authentizität im Kollektivraum. Sobald Texte potentiell geteilt werden, schreiben wir mit einer Absicht: Audience Design, Imaginationsadressat, Self-Fashioning. Selbst das Automatische driftet in Stil, Pointe, Rhythmus – Affekt wird stilisiert. Das ist kein Mangel, sondern die Bedingung von Erzählung: Retelling beginnt schon im ersten Telling, weil das Ich sich als erzählbares Subjekt setzt. Schreiben wird zur Performanz der Innerlichkeit, die von Anfang an zwischen Eigenstimme und erwarteter Rezeption oszilliert.

Theater: Polyphonie, Offenheit, Nicht-Lesart als Lesart

Mit dem Theatertext (Kim de l’Horizon, Nacherzählung von Die kleine Meerjungfrau) verschiebt sich das Problem ins polyphone Feld. Die Regieanweisungen fordern bewusst keine eindeutige Festlegung: Figuren, Dialoge und Räume sind nicht klar definiert, sondern bleiben offen für Interpretation. Theater zeigt sich hier als eine Praxis der Wiederholung: vom ursprünglichen Stoff über die Adaption zur Probe, zur Aufführung und schliesslich zur Wahrnehmung durch das Publikum. Jede dieser Ebenen erzählt die Geschichte neu, mit anderen Mitteln und aus anderen Perspektiven. Entscheidend ist die Einsicht, dass gerade das Nicht-Erklären eine erzählerische Strategie ist. Offenheit wird zu einer affektiven Einladung: Das Publikum schaut nicht bloss zu, sondern ist aktiv daran beteiligt, Bedeutung herzustellen. Nicht nur gesprochene Worte erzählen, sondern auch Körper, Blicke, Bewegungen und Rhythmen – all das trägt zur Geschichte bei.

Zukunft in der Gegenwart: Queere/postkoloniale Temporalitäten

Silvy Chakkalakals Vortrag öffnete die Frage des Erzählens auf die Zukunft hin: Utopien/Dystopien, Prognosen/Spekulationen als Gegenwartsdiagnostik. «Es gibt kein Wir mehr» – die Linse verschiebt sich auf Inklusion/Exklusion in kollektiv behaupteten Subjekten. Afrofuturistische und afropessimistische Motive markieren die Affektkurven dieser Zukunftserzählungen: Hoffnung und Müdigkeit, Begehren und Entzug. Zukunft erscheint als Futur II der Gegenwart: Es wird gewesen sein, was wir heute erzählen. Damit ist Retelling nicht mehr nur Wiederholung des Vergangenen, sondern eine vorwegnehmende Erzählpraxis – und gerade darin zutiefst politisch.

Zurück ins Museum: Multitemporalität als kuratorische Ethik

Genau an dieser Stelle lohnt ein erneuter Blick ins Museum der Kulturen Basel (MKB). Wenn Zukunftserzählungen die Gegenwart prägen, dann tun dies Vergangenheitsübertragungen (oder -erzählungen) (Rückführungen, Repliken, Depot-Rituale) ebenso. Das Museum operiert multitemporal: Es archiviert, aktualisiert, antizipiert. In der Auseinandersetzung mit dem Tulu wird diese Gleichzeitigkeit besonders deutlich: Unterschiedliche zeitliche Ebenen stehen nebeneinander:  Das Original trägt die Spur (Vergangenheit), die Replik die pädagogische Gegenwart, das Video die ritualisierte Wiederkehr, die Rückführung die moralische Zukunft. Kuratorische Praxis wird damit zur Zeitpolitik – und Ethik zur Frage des richtigen Timings (Wann erzählen? Mit wem? In welcher Stimme?).

Im Zentrum steht dabei die Frage, wer mitsprechen darf, wenn Objekte verhandelt werden: Herkunftscommunity, Forschende, Kurator:innen, Vermittlung, Publikum. Ko-Autor:innenschaft ist kein romantisches Ideal, sondern eine Verfahrensfrage: Wie werden Beteiligungen materialisiert (Verträge, Labels, Geteilte Rechte), visualisiert (Texte, Stimmen, Sprachen) und rhythmisiert (Zeit geben, zurückgeben, wiederholen)? Ein ethisches Retelling bedeutet, dass verschiedene Erzählweisen nebeneinander existieren – sonst bleibt es ein Einweg-Frame.

Meine Forschung als Parallelfolie: Digitale Bildkulturen, Biraciality, Plattformlogiken

Die im Museum sichtbaren Fragen wiederholen sich – verschoben – in meiner Forschung zu biracial Identitäten in digitalen Bildkulturen (TikTok/Instagram). Auch hier: Retelling als Grundmodus. Posts re-enacten Begehren, Verletzung, Stolz; Caption-Paratexte rahmen Rezeption; Algorithmische Fokalisation (For-You-Feed, Trending Sounds) wirkt als unsichtbare Kuratorin. Wer wird sichtbar? In welcher Ästhetik der Glokalisierung (globale Sounds, lokale Codes)? Colorism fungiert als Affektfilter: Helligkeitsregime strukturieren die Wahrscheinlichkeit von Reichweite und Resonanz. Reclaiming (Begriffe, Labels, Hairstyles) und Renaming (Selbstbezeichnungen) sind mikropolitische Eingriffe in die Plattformsemantik.

Hier wie im Museum verschiebt, sich die Frage von «Wahr» zu «Wie»: Narratologische Operationen (Fokalisation, Perspektivwechsel, Montage), affekttheoretische Momente (Mikrobewegungen, Stimme, Timing), Medialität (Loop, Duett, Remix) und Adressierung (Community vs. Mainstream) konstituieren Bedeutung. Auch digital gilt: Es gibt kein nicht-performatives Erzählen. Selbst «authentische» Frontkamera-Statements sind inszenierte Gegenwart – getaktet, geschnitten, mit Blick auf algorithmische Erwartungshorizonte. Was das Museum über Paratexte verhandelt, verhandelt die Plattform über Gesetzmässigkeiten.

Vier R’s als methodischer Kompass

Über alle Settings hinweg verdichten sich vier R’s als analytische Leitplanken:

Retelling – Wiederholen als Produktionslogik (Museumstext, Theaterprobe, Post-Format).

Reenacting – Verkörperte Wiederholung als Affektübertrag (Depot-Ritual, Szene, Trend).

Reclaiming – Semantische/politische Rückaneignung (Umbenennung, Begriffe, Sichtbarkeit).

Renaming – Indexverschiebungen als symbolische Praxis (MKB, Self-Labels, Hashtags).

Diese vier Prozesse sind keine zusätzlichen Funktionen; sie sind das Feld. Ihre Ethik entscheidet sich in der Kopplung: Wer benennt um und gibt zurück? Wer reenactet und teilt Autor:innenschaft? Wer retellt und öffnet Zugänge?

Gibt es Telling ohne Retelling?

Bleibt die grosse Frage: Gibt es ein Erzählen, das nicht Wiederholung ist? Narratologisch betrachtet ist jedes Telling intertextuell (Bezüge, Genres, Schemata) und intermedial (Gesten, Objekte, Stimmen). Affekttheoretisch ist jedes Erzählen strukturiert durch Körper, Rhythmus, Erwartung. Medientheoretisch ist es formatiert (Vitrine, Walk, Workshop, Story-Frame). Retelling ist daher nicht der defizitäre Schatten des Originals, sondern Bedingung kultureller Artikulation. Kulturwissenschaftlich gesehen, läge die Ethik nicht in der Vermeidung der Wiederholung, sondern in einer verantwortlichen Praxis der Wiederholung: Sorgfalt im Frame, Transparenz in der Position, Ko-Präsenz in der Stimme, Zeit geben im Prozess.

Die Tagung als performativer Denkraum

Die EKWS-Tagung hat nicht über Retelling and Reenacting gesprochen, sie hat beides vollzogen. Das MKB hat gezeigt, wie Paratexte und Dinge aneinander lernen; der Stadtraum, wie Selektivität Geschichte schreibt; das Schreiben, wie Performativität Authentizität rahmt; das Theater, wie Polyphonie Sinn erzeugt; der Zukunftsvortrag, wie Temporalitäten politisch werden. Zurück im Museum wird klar: Multitemporalität ist keine Option, sondern Grundlage kuratorischer Ethik – und damit anschlussfähig an digitale Plattformpraktiken, in denen Reclaiming und Renaming Sichtbarkeit erst ermöglichen.

Wenn alles ein Retelling ist, dann ist das keine Kapitulation vor dem Immer-gleichen, sondern eine Methodik: Wiederholen als Präzisierung, Nacherzählen als Öffnung, Reenactment als Affektarbeit, Reclaiming/Renaming als politische Semantik. Was zählt, ist nicht, dass wiederholt wird, sondern wie – und mit wem. Genau darin liegt die Verantwortung der Institution, die Intelligenz der Praxis und die Zukunft eines Faches, das gelernt hat, seine eigenen Erzählapparate mitzudenken.