Alte Bekannte, neue Hintergründe
Der Beitrag zeichnet die verschiedenen Deutungen der Lötschentaler Tschäggättä, wie sie seit mehr als 150 Jahren gemacht werden, nach. Während im 19. Jahrhundert die Kontinuität und das hohe Alter des Brauchs im Zentrum des Interesses standen, konzentrieren sich Forschende heute vor allem auf die aktuellen und sich stetig erneuernden Brauchpraktiken und verorten diese in sich verändernden sozialen und ökonomischen Kontexten. Dadurch lässt sich auch eine Veränderung der Bedeutung der Walliser Fastnacht erkennen.
Der Beitrag von Werner Bellwald erschien im Bulletin 2016/3. Wir haben ihn gebeten, sich aus heutiger Sicht nochmals auf den Inhalt des Beitrags zu beziehen:
So schematisch der Beitrag von 2016 die Fastnacht und die Forschung dazu skizzierte, grundsätzlich blieb seither alles beim Alten, inklusive der Seitenblicke auf allgemeine Brauchtendenzen. Ans Strukturelle rührende Dinge verkehren sich selten so rasch – dass Brauchtumsforschung auch in den letzten Übersichtswerken des Fachs immer noch zu den Standards gehört und die einschlägigen Beiträge von klingenden Namen verfasst wurden, weist auf eine Chance, die diesen Momenten innewohnt: Die Beschäftigung mit Bräuchen scheint mir keine «Tätigkeit am After der Wissenschaften» (Zitat Theo Gantner selig), sondern als Fenster, das wir zu öffnen verstehen sollten und das uns Blicke auf verschiedene Bereiche einer Gesellschaft, auf Befindlichkeiten einzelner Gruppierungen erlaubt. Statt der Ausnahme erkennen wir plötzlich den Alltag, die Gedanken- und Handlungszusammen-hänge, die ihn prägen. Und das interessiert mich als Kulturwissenschaftler nach wie vor, unter verschiedenen Perspektiven. Und darum werde ich hier eines Tages wieder «Mitläufer» sein…
Von hölzernen Unholden...
In der Zeit vor Aschermittwoch treten im Lötschental die Gescheckten auf, im Dialekt Tschäggättä benannt, nach den gescheckten Ziegen- und Schaffellen, in welche sich die maskierten Gestalten hüllen. Zusammengehalten werden die Felle von einem breiten Lederband, an dem eine grosse Kuhtreichel baumelt. Das Gesicht verdeckt eine grosse Holzmaske, die uns das Fürchten lehren soll.
An den Nachmittagen und Abenden der Fastnachtszeit streifen die Tschäggättä einzeln oder in kleinen Gruppen durch die Strassen, rennen ihren Opfern nach, vorzugsweise schönen Töchtern, und werfen auch gerne mal einen Touristen oder einen unliebsamen Mitbürger in den Schnee. Noch bis in die 1950er Jahre hinein schlossen einige Familien in der Fastnachtszeit die Haustüren. Andere vermieden es, nachmittags auf die Strasse zu gehen. Die Tschäggättä erlaubten sich regelrechte Grobheiten. Aussagen ihrer Opfer sind bis heute zu hören und ergäben ein eindrückliches Buch – das sich ebenso gut in einer der anderen Fastnachtshochburgen in der Schweiz schreiben liesse; wir sehen Fastnacht heute als feuchtfröhliche Zeit an und vergessen, dass sie Jahrhunderte lang auch dazu diente, offene Rechnungen zu begleichen.
... zum beissenden Schnitzelbank
Allzu viele Grobheiten aber können sich die jungen Männer heute trotz der Anonymität der Maske nicht mehr leisten. Einzelne Opfer drohten auch schon mit Polizei und Gericht. In anderen Fällen mussten Tschäggättä, die nach alter Manier mit einem russigen Handschuh das Gesicht ihrer Opfer schwärzten und dabei auch die Kleidung beschmutzten, die Rechnung der chemischen Reinigung bezahlen. Und seit den 1980er Jahren zollen selbst Kinder keinen Respekt mehr. Sie springen den Gestalten hinterher oder ziehen gar an deren Fellen, womit das Maskenlaufen manchem total verleidet ist. Schnitzelbänke, Umzüge, Guggenmusik und Verkleidungen aller Art stehen inzwischen als Alternative offen – die Fastnacht erfuhr auch im Lötschental längst einen Zivilisierungsschub.
«Bruich ischt Bruich!»
Auch aus anderen Gründen suchen wir an den Fastnachtsnachmittagen oft umsonst nach Maskierten: Aus den früheren Bauern sind, wie vielerorts im ländlichen Europa, Angestellte geworden, die tagsüber in den umliegenden Kreisstädten arbeiten und erst abends ins Tal heimkehren – genau dann, wenn das Maskenlaufen mit dem Betzeitläuten vom Kirchturm um 18 Uhr laut der früheren Tradition endet. Daher verboten Dorfpolitiker Mitte der 1980er Jahre nach dem Motto «Brauch bleibt Brauch» das Maskenlaufen nach 18 Uhr. Am Anschlagkasten der Gemeinde Wiler beispielsweise hing damals ein Zettel, der mit den Worten schloss: «Fehlbare riskieren eine Anzeige mit Strafverfahren.»
Von der Realität eingeholt
Das Verhältnis zwischen örtlicher Obrigkeit und festfreudiger Jugend war in jenen Jahren eh schon angespannt. So entschlossen sich 1987 eine Handvoll jugendlicher Tschäggättä, am «Feysti Vroontag» (Fetter Donnerstag) nachts ein Maskenlaufen durch zwei, drei Dörfer durchzuführen. In Wiler zogen die Maskierten ihre Felle und Masken über, liefen lärmend nach Kippel, einzelne bis Ferden. Vor den Häusern der Lokalpolitiker, namentlich des damaligen Talratspräsidenten Walter Jaggy in Kippel, der sich als Gegner des Nachtlaufens hervorgetan hatte, schüttelten die Maskierten ihre grossen Glocken mit besonderer Freude...
Tempi passati. Wie die Revolution ihre Kinder frisst, wurde der junge Protestlauf in Kürze zur alten Tradition: So ziehen seit den 1990er Jahren am Fetten Donnerstag Abends um acht an die 100 Maskierte durch Blatten und laufen anschliessend von der obersten Gemeinde durch das Tal hinunter bis Ferden, begleitet von Fernsehanstalten, Fotografen und hunderten Schaulustigen in den Siedlungen. Das nächtliche Spektakel im Schein der Strassenlampen fasziniert Alte und Junge. Hünenhafte Gestalten schreiten im Halbdunkel auf dich zu, die Glocken vollführen einen ohrenbetäubenden Radau, hier fällt das Licht kurz auf ein Hexengesicht, dort erblickst du einen Zombie, dazwischen Masken älteren Stils mit verzerrten Menschen- und Teufelsantlitzen. Die Stimmung variiert zwischen Staunen und Grauen. Doch statt Tätlichkeiten bleibt es heute meist bei Gebärden. Der Verkehrsverein wirbt mit ganzseitigen Zeitungsinseraten für den Besuch des Spektakels, die Titelzeilen versprechen «ursprüngliche und wilde Fastnacht» sowie «dämonische Masken», der neue Slogan der Tourismusmanager lautet «Das magische Tal». Und jene, die das nächtliche Maskieren vor 30 Jahren grossmundig verbieten beziehungsweise per Gesetz bestrafen wollten, stehen am Strassenrand und spenden Applaus.
Was ist ein Brauch?
Sie bemerken längst: Wir haben die Oberfläche des Brauchgeschehens verlassen. Am Beispiel von Maskierten und deren Treiben erkennen wir unschwer, dass ein Brauch unter anderem ein Abbild unserer aktuellen Lebensverhältnisse ist: Ablesen lassen sich an ihm die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen vor Ort (Tages- und Wochenpendler), Generationenkonflikte (Verbot des Nachtlaufens und Gegenreaktion), Mechanismen im Bereich des Tourismus (Vermarktung eines aussergewöhnlichen Anlasses, bei dem man sich aber gewöhnlich zu benehmen hat) und mediale Bedürfnisse (dankbare Aufnahme neu ins Leben gerufener Ereignisse, die man im selben Atemzug als «uralt» verkaufen kann). Die Liste liesse sich verlängern. Doch wenn ein Brauch ein lebendiger Spiegel ist, weshalb hören wir dann jedes Jahr, er sei Jahrtausende alt und heidnisch?
Stabilitätswünsche in Umbruchzeiten
In der Zeit um 1850, 1900 und bis in die 1930er Jahren hinein suchten damalige Volkskundler nach dem Ursprung von Bräuchen und tippten – so auch bei den Tschäggätta – auf Dämonenvertreibung, Fruchtbarkeitszauber, heidnischen Totenkult und derlei weit hergeholte Dinge mehr. Die Vorliebe für mythologische Theorien (streng genommen sind es gar keine Theorien, sondern spekulative Deutungen) und ein möglichst hohes Alter waren damals bei vielen Gelehrten Europas virulent: Die industrielle Revolution liess die Städte anwachsen, schürte soziale Probleme, der Fortschritt wurde als Bedrohung empfunden. Im Gegenzug wurden unversehrte Landschaften, bäuerliche Bevölkerungen und deren Traditionen als echt und unverfälscht idealisiert. Als ob es früher nie einen Wandel gegeben hätte, keine sozialen Konflikte, keine wirtschaftlichen Interessen, keinen kulturellen Transfer. Aller Wandel wurde ausgeblendet und je älter etwas (angeblich) war, umso besser.
Staatskultur
Historische Fakten und gesellschaftliche Veränderungen interessierten im 19. Jahrhundert wenig. Gelehrte aus den Städten erforschten die noch weitgehend unbekannten Bräuche auf dem Land – kaum jemand hatte zuvor davon Notiz genommen. In den verschiedenen Regionen des Landes wurde diese oder jene farbenprächtige oder furchterregend-archaische Besonderheit entdeckt. Und sofort für altehrwürdig befunden.
Die in binnenexotischer Verklärung entdeckten Bräuche verliehen den jungen, teils eben erst gegründeten Nationalstaaten ein kulturelles Profil, eine quasihistorische Basis und trugen zur Legitimierung ihrer Existenz bei. Nebst Persönlichkeiten (Tell, Winkelried), landschaftlichen Erscheinungen (Rheinfall, Matterhorn) oder Bauwerken (Holzbrücke in Luzern) konnten auch Bräuche in den Rang eines nationalen Markenzeichens aufsteigen. In Büchern, Landesausstellungen und grossen Festumzügen wurden einzelne Bräuche nun als typisch schweizerisch dargestellt. Die junge Schweiz konnte sich auf heidnische Vorfahren und keltische Traditionen berufen – wie es in jenen Jahrzehnten um 1900 auch unsere Nachbarstaaten mit Schulwandbildern, Theatern und ähnlichen patriotischen Momenten erfolgreich vorführten.
Wunsch und Wirklichkeit
So propagierte man auch, die Lötschentaler Masken hätten sich über Jahrhunderte, ja Jahrtausende bis ins 20. Jahrhunderte hineingerettet – in ungebrochener Kontinuität seit keltischer Zeit. Das wäre 2000 bis 3000 Jahre her... Dabei ist es nicht einmal so sicher, ob Hochalpentäler am Ende der Bronzezeit (um 1000 v. Chr.) bereits dauerhaft besiedelt waren, ganz zu schweigen von späteren tiefschürfenden Umbrüchen wie der Unterwerfung durch die Römer (15 v. Chr.) oder etwa der Einwanderung der Alemannen (8./9. Jahrhundert n. Chr.), die sprachlich und kulturell einiges von dem veränderten, was zuvor in der Region Gang und Gäbe war...
Erst eine neue Generation von Volkskundlern brachte seit den 1970er Jahren mit Archivstudium und vergleichenden Fakten auch die Fastnacht auf den Boden der Realität zurück. So betreffen im Falle der Lötschentaler Masken die ältesten Zeugnisse aus der mündlichen Kultur die Zeit des französischen Einmarsches 1799. Aus den 1860er Jahren stammt das erste schriftliche Zeugnis. Freilich könnte der Anfang einige Jahrhunderte zurückreichen: Heute nimmt man an, dass sich die Maskenfiguren aus den kirchlichen Theaterspielen verselbständigten und eines Tages mit ihren Teufelsmasken an der Fastnacht auftraten – solche Vorgänge sind für Süddeutschland so gut wie belegt. Seither entwickelte sich das Maskenlaufen unter mehrfacher Veränderung von Formen und Funktionen zu seinem momentanen Aussehen.
Aktualität
So gesehen zeugt es von der Vitalität des Brauches, wenn viele Maskenläufer nicht mehr am grossen Umzug vom Donnerstagabend mitmachen, dafür an anderen Tagen aktiv werden, wenn weniger Medienleute sie belagern. Massen an Zuschauern sind auch nicht nötig, um Spass zu haben oder andere erzittern zu lassen. Dass man durchaus «für sich selbst» und für den Kontakt mit ein paar Einheimischen maskenlaufen kann, bewiesen ein halbes Dutzend Tschäggättä, die am Gidisdienstag 2015 am helllichten Tag von Eisten bis Goppenstein liefen und auch künftig wieder mal einen ähnlichen Plauschlauf machen wollen – ohne jegliche Organisation, ohne eine zwangsläufige Kostümnormierung, an einem noch unbestimmten Tag, irgendwann während der Fastnachtszeit – was ganz an die «wilden» Figuren anderer Fastnachtsorte erinnert. Dass heute im Tal wie auswärts an Hochzeiten hie und da Tschäggättä auftreten, unterstreicht diese Beobachtung, dass man den Brauch nicht einfach als Schaubrauchtum für touristische Momente versteht, sondern sich mit ihm identifiziert und zeitlich und örtlich sehr kreativ damit umgeht.
Ähnliche Werdegänge lassen sich für viele Bräuche nachzeichnen. Dabei ist manches, was auf den ersten Blick «uralt» oder «typisch schweizerisch» erscheint, in dieser Form nur wenige Jahrzehnte jung und findet seine Parallelen im In- und Ausland. Das braucht uns nicht zu enttäuschen: Es bestätigt, wie flexibel und lebendig ein Brauch – beziehungsweise eine Gesellschaft – ist. Erstarrte Formen haben, wie in anderen Lebensbereichen auch, eher geringe Überlebenschancen...
Dieser Erkenntnis hat sich auch der 2015 gegründete Lötschentaler Fastnachtsverein in Wiler verschrieben. Präsidiert wird er von Heinrich Rieder, dem jüngsten Sohn aus der Familie Agnes und Ernst Rieder, die seit Jahrzehnten als Maskenschnitzer aktiv sind und auch einen bekannten Maskenkeller mit einigen hundert Larven besitzen. Diese werden jedoch nicht hinter Vitrinen beerdigt, sondern sind zusammen mit einer stattlichen Auswahl an Fellen, Glocken und weiterem Zubehör während der Fastnacht auf den Strassen zu sehen. Auch für die BesucherInnen gilt nicht «Berühren verboten», sondern anhand der Ausrüstungsgegenstände ist konkret begreifbar, welche körperlichen Strapazen das Maskenlaufen mit sich bringt – bevor man alte und neue Stücke, frühere Fotos und heutige Filme sieht, weitere Figuren der Fastnacht kennenlernt und zum Beispiel mit einer Tschäggättusuppun gestärkt wird. Letzteres ist eine kulinarische Neuerung – die auf einer alten Tradition beruht: In der Fastnachtszeit bot die Küche immer schon etwas Spezielles...
Nicht nur an Ort und Stelle tut sich vor und hinter den Kulissen allerhand, was den jährlich gebetsmühlenartig wiederholten Medienbeiträgen entgeht. Auch Volkskundler (oder wie sie sich heute auch immer nennen) entdecken selbst auf ausgetretenen Wegen neue Pisten: Nachdem im Fach seit gut 100 Jahren mehr als 30 VertreterInnen über die Lötschentaler Fastnacht schrieben und dabei vor allem die Masken fokussierten, untersuchten Konrad Kuhn und der Autor nun erstmals die Maskenschnitzer.[i] Ihnen und den mit dem Schnitzen einhergehenden Absichten und Zuschreibungen war bisher nur selten Aufmerksamkeit geschenkt worden. Auch das ein (leider) durchaus typisches Fazit der Brauchforschung: Jahrzehntelang versteckten exotisch wirkende Objekte den Blick auf die Menschen und deren Tun.