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Besuch im MuCEM in Marseille

Das 2013 eröffnete Museum in der südfranzösischen Hafenmetropole hat sich zum Ziel gesetzt, die Kulturverflechtungen des Mittelmeerraumes – auch in ihren Ungleichheiten und Abhängigkeiten – zu vermessen. Dies gelingt dem MuCEM nicht zuletzt durch eine Neuinterpretation traditioneller Objektbestände und eine systematische zeitgenössische Sammlungstätigkeit.

«Neulich im Museum» ist eine neue Kolumne von «das bulletin. Für Alltag und Populäres.» Sie will den kulturwissenschaftlichen Blick auf die Institution Museum und das populäre Medium Ausstellung schärfen und dem nach wie vor vernachlässigten Genre der Ausstellungskritik einen Platz geben. Dazu erscheinen in loser Folge knappe Berichte von Besuchen in kleinen und grossen Museen des In- und Auslands, sichtbaren und weniger sichtbaren, solchen mit deutlicherem Bezug zur Kulturwissenschaft des Alltags und auch solchen, bei denen sich dieser nicht auf den ersten Blick erkennen lässt. Folge 1: Ein Besuch im MuCEM in Marseille.

Nach Marseille kommt man gut mit dem Zug. Startet man morgens in Zürich oder Basel, kann man – jedenfalls während der Sommermonate mit ausgedehnten Öffnungszeiten – theoretisch noch am Tag der Ankunft etliche Stunden im MuCEM verbringen. Das Musée des civilisations de l’Europe et de la Méditerranée wurde nach sich lange hinziehenden Diskussionen und vielen Verzögerungen schliesslich im Kulturhauptstadtjahr 2013 eröffnet. Wie hat es sich bald zehn Jahre nach seiner Einrichtung entwickelt?

Von seiner Attraktivität scheint das MuCEM auch nach den schwierigen Jahren der Pandemie wenig eingebüsst zu haben. Zumindest an einem regnerischen Samstag im April bilden sich bald Schlangen am Eingang zum Gesamtkomplex und dann noch einmal an den Eingängen zu den einzelnen Ausstellungen. Aber die Abläufe funktionieren bestens, die Besucher:innen verteilen sich gut im modernen Hauptgebäude und in den adaptierten Räumen und Aussenzonen des historischen Forts, mit dem das Museum durch eine spektakuläre Passerelle verbunden ist.

Blick auf das MuCEM
Nicht nur indoor ein erlebnisorientiertes Museum: Blick vom Fort Saint-Jean (Foto: Bernhard Tschofen, 2014).

Zwischen dem alten und neuen Hafen gelegen überblickt man hier die sich unübersehbar nach wie vor transformierende, lange vernachlässigte Metropole mit ihrem dichten Nebeneinander einer in Europa fast einmaligen Diversität. Das baulich und konzeptionell niederschwellig und inklusiv auftretende MuCEM ist mittlerweile nicht nur zu einem öffentlichen Raum geworden, in dem sich Bewohner:innen und Tourist:innen auch einmal zum Picknick niederlassen können, sondern hat über die Jahre auch seine eigene Handschrift entwickelt, um dem im Gründungsauftrag angelegten Grundgedanken nachzukommen: die europäischen und besonders die mediterranen Kulturverflechtungen nach verschiedenen Richtungen und mit unterschiedlichen Mitteln zu vermessen.

Kann es auf Dauer gelingen, diese Geschichte zu erzählen ohne sie zu essentialisieren? Gelingt es, im Blick für das Verbindende der monde méditerranéen auch die wachsenden Differenzen, Abhängigkeiten und Ungleichheiten zu thematisieren? Diese Fragen haben sich mit der Gründung eines postnationalen und postkolonialen Museums der Kulturen von Anbeginn gestellt. Verdankt sich doch das MuCEM der Auflösung des Pariser Musée national des Arts et Traditions Populaires (ATP) und der Verlegung seiner Bestände nach Marseille. Die Gründung des neuen Museums sollte sich aber von vornherein nicht in seinem Beitrag zur Regionalisierung der Kulturpolitik und Museumslandschaft erschöpfen.

Hub: Die öffentliche Eingangshalle des MuCEM an einem Samstag im April 2022 (Foto: Bernhard Tschofen).

Das MuCEM zeigt stets eine ganze Reihe von Ausstellungen unterschiedlicher Formate. Ein Besuch von zwei ausgewählten Präsentationen, einer semipermanenten und einer temporären, kann einen exemplarischen Einblick bieten. Die zur Eröffnung gezeigte, sehr universalistisch ausgerichtete Dauerausstellung ist vor einigen Jahren schrittweise durch zwei stärker thematisch argumentierende ersetzt worden. In einer wird – Fernand Braudels Ideen über die méditerranée folgend – mit der Konnektivität so etwas wie der Grundgedanke des Hauses ausgelotet. Hier werden die Beziehungen zwischen den grossen Hafenstädten des 16. und 17. Jahrhunderts zum Ausgangspunkt von Erkundungen über ihre gegenwärtigen (häufig gegenläufigen) Dynamiken. In der anderen, der unsere Aufmerksamkeit gilt, steht unter dem Titel «Le grand Mezzé» das Konzept der sogenannten mediterranen Kost im Zentrum der Befragung.

Essen und Trinken ist freilich ein dankbares Ausstellungsthema, das in «Le grand Mezzé» aber keinesfalls oberflächlich bleibt. Im Gegenteil, der Ausstellung gelingt es, ausgehend von dem ernährungswissenschaftlich-medizinischen (und damit nicht unpolitischen) Konzept der «mediterranean diet» des US-amerikanischen Epidemiologen Ancel Keys die Konstruktion und Transformation eines gemeinsamen kulinarischen Raums der Mittelmeerküche nachzuverfolgen – von der biopolitischen Herz-Kreislaufforschung der Nachkriegszeit über die mediale Verbreitung, wachsende touristische Verwertung und weltweite Ausstrahlung bis zum 2010 verliehenen Welterbestatus («Repräsentative Liste des immateriellen Kulturerbes der Menschheit»). Glücklicherweise richtet die trotz aller Skepsis und kritischer Distanz sehr sinnlich anmutende Ausstellung den Blick nicht zuletzt sowohl auf die zumindest halbkolonialen Verflechtungen, die gerade heute die mediterrane Lebensmittelproduktion beherrschen, als auch auf die oftmals machtlos anmutenden, aber politisch engagierten Versuche, ihr vielfältiges Erbe nachhaltig zu erhalten und umwelt- und sozialverträglich weiter zu entwickeln.

Nicht nur Videowalls und interaktive Stationen, sondern Storytelling mit klassischen Sammlungsobjekten aus der Ausstellung «Le grand Mezzé» (in der Mitte die eisernen Kastanienschuhe) (Foto: Bernhard Tschofen).

Mit dem Format dieser halbpermanenten Präsentation führt das MuCEM vor, wie sich heute thematische Ausstellungen hoher Aktualität gestalten lassen, in denen trotzdem traditionelle Objekte aus den Sammlungen einen gewichtigen Platz einnehmen. Sie zeigt faszinierende Exponate um Wein und Weizen, Öl, Gewürze und Weidewirtschaft aus der materiellen Kultur der Mittelmeerländer. Diese reichen von der Antike und Vormoderne bis in unser Zeitalter der «Ungleichzeitigkeiten» und der industriellen Produktion von Tradition. Als Objekte einer longue durée kommen sie gerade in der Korrespondenz mit einer modernen medienbasierten Szenografie neu und informativ zur Geltung. Eine Ausstellung, in der es viel zum Schauen und Staunen gibt (diese Marroniaustretschuhe!). Auch ans Mitnehmen und sinnliche Nacherleben wurde gedacht: Am Ende des Besuchs hält man, wenn man will und aufmerksam sammelt, eine ansprechende kleine Sammlung von Schlüsselrezepten der mediterranen Küche samt Erklärungen in Händen.

Nicht möglich ohne die vorausschauende Sammlungs- und Forschungstätigkeit des Hauses: Sonderausstellung des MuCEM über AIDS «VIH/sida. L’épidémie n’est pas finie!» (Foto: Bernhard Tschofen).

Einen ganz anderen Charakter hat die besuchte Sonderausstellung über AIDS «VIH/sida. L’épidémie n’est pas finie!». Vierzig Jahre nach Bekanntwerden der Krankheit eröffnet, zeigt sie die Geschichte des gesellschaftlichen Umgangs mit der Infektionskrankheit von der frühen Stigmatisierung über die zivilgesellschaftliche, medizinische und politische Mobilisierung im Kampf gegen das Virus bis zu seinem drohenden Vergessen und dessen fatalen Folgen. Aber auch hier rückt wieder eine Beziehungsgeschichte in den Vordergrund, nämlich die zwischen Frankreich, Europa respektive der westlichen Welt und Afrika. Diese Perspektivierung folgt nicht nur dem Selbstverständnis des Hauses, sondern verleiht dem Thema auch zusätzliche Brisanz. Hochaktuell sind nicht zuletzt die Fragen, die die Ausstellung in Bezug auf den demokratischen Zugang zum Gesundheitssystem und zum politischen Pandemiemanagement aufwirft.

Ein gut behütetes Matterhorn aus der Frühzeit der AIDS-Prävention als Schweizer Fundstück: Plakat «Condom Helveticus», ca. 1988 (Foto: Bernhard Tschofen).

Die sensibel gemachte und gestalterisch äusserst überzeugende Ausstellung demonstriert zudem, wie wichtig contemporary collecting in Kulturmuseen ist. Sie stützt sich zwar auf Leihgaben von NGOs und Aktivist:innen aus aller Welt, kann aber vor allem auf eine seit der Jahrtausendwende schwerpunktmässig verfolgte Sammlungsaktivität des Hauses aufbauen: berührende und hervorragend dokumentierte Objekte aus Kunst und Alltag, die heute in dieser Dichte und Qualität nicht mehr zusammengetragen werden könnten. Schweizbezüge gibt es in der Ausstellung übrigens wenige, aber sie finden sich doch: das heute zum Schmunzeln animierende Plakat Condom Helveticus mit dem Motiv des präservativgeschützten Matterhorns und – weit weniger amüsant – der kritische Blick auf die Rolle der Pharmaindustrie bei Patentfragen und Generika nach den ersten erfolgreichen Durchbrüchen der Forschung.

Bernhard Tschofen

Bernhard Tschofen ist Professor für Populäre Kulturen an der Universität Zürich. Er war nach dem Studium der Empirischen Kulturwissenschaft und Kunstgeschichte in Innsbruck und Tübingen unter anderem im Museumswesen tätig, dann an der Universität Wien. Von 2004 bis 2013 hatte er eine Professur an der Universität Tübingen inne. Zu seinen Schwerpunkten gehören die Berührungsflächen von Alltags- und Wissenskulturen sowie raumkulturelle Fragen in Geschichte und Gegenwart. In der Kolumne «Neulich im Museum» berichtet Bernhard Tschofen für das bulletin von Besuchen in kleinen und grossen Museen des In- und Auslands und reflektiert das populäre Medium Ausstellung.
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