Einsamkeit, Sehnsucht und Hass: Emotionspraktiken von Incels
In der «Incelosphäre» werden Einsamkeit und Sehnsucht in ein misogynes Weltbild überführt, das Sinn stiftet und kollektive Zugehörigkeit produziert. Der Beitrag zeigt, wie Emotionspraktiken und Ideologie sich wechselseitig stabilisieren, Hass spielerisch inszeniert wird und gewaltvolle diskursive Praktiken normalisiert werden.
«Es ist ein Punkt erreicht, an dem ich nicht mehr Frauen hasse, sondern nur noch mich selbst», schreibt Gian[i], ein Biologie-Student, der sich selbst als Incel identifiziert, als ich mit ihm chatte. Gians Aussagen stehen einerseits im Kontrast zur weit verbreiteten öffentlichen Wahrnehmung von Incels als radikalisierte, frauenverachtende Community. Andererseits reproduziert er implizit das Narrativ des entmachteten Mannes. Seit den Anschlägen von Isla Vista (2014), Toronto (2018) und Halle (2019) gelten Incels als Inbegriff für Frauenfeindlichkeit und als Symptom einer eskalierenden Krise von Männlichkeit(en). «Incel» (involuntary celibate) bezeichnet junge, heterosexuelle Männer, die romantische und sexuelle Beziehungen begehren, dies jedoch als strukturell verwehrt empfinden.

Der Begriff «Incel» ist eng verwoben mit einem frauenverachtenden und menschenfeindlichen Weltbild, das sich in der emischen Erzählung – der Black Pill – zuspitzt. Die Black Pill als ideologisch-aufgeladene Blaupause essenzialisiert Geschlechterverhältnisse und stellt Frauen als triebgesteuert dar. Aussehen sei der entscheidende Faktor für romantische und sexuelle Beziehungen und Incels verstehen sich als «genetisch minderwertig» und damit als ausgeschlossene Subjekte in einer als oberflächlich und statusfixierten imaginierten Gesellschaft.
Die Black Pill ist ein komplexe und sich ständig erweiternde Erzählung, an der gemeinschaftlich über die Foren und Plattformen der «Incelosphäre» gearbeitet wird und im incels.wiki kodifiziert wird.[ii] In ihr verbinden sich biologischer Determinismus, sozialdarwinistische Argumentationsmuster und popkulturelle Referenzen zu einer vermeintlich unveränderbaren Naturordnung.[iii] Besonders problematisch ist dabei, dass die Black Pill von vielen Incels als «Wahrheit» verstanden wird, da das Narrativ mit pseudo-wissenschaftlichen Studien unterfüttert wird.[iv] Dabei wird verkannt, dass wissenschaftliche Erkenntnisse vorläufig und kontextabhängig sind und dass Wissensproduktion ein offener, kritischer Prozess ist, während sie in der «Incelosphäre» als endgültige, objektive Wahrheit inszeniert wird.[v]
Basierend auf 16 qualitativen Chat-Interviews[vi] mit Incels zeigt der vorliegende Beitrag, wie subjektive Erfahrungen in ein misogynes Weltbild überführt werden, das wiederum zur Sinnstiftung und Legitimierung der empfundenen Lebenssituation dient. Diese rekursive Schleife lässt sich als Modus der Ausweglosigkeit beschreiben, in dem sich Emotionen, wie Einsamkeit, Sehnsucht und Verachtung und das frauenfeindliche Weltbild wechselseitig stabilisieren und das «unfreiwillige Zölibat» als ausweglos konstruieren.
Ich argumentiere unter Rückgriff auf Monique Scheer, dass Affekte wie Hoffnungslosigkeit und Verachtung nicht nur artikuliert, sondern aktiv in die Binnenlogik der Black Pill eingebettet werden. Die Foren fungieren als affektive Resonanzräume, in denen Emotionen zirkulieren und das frauenfeindliche Weltbild rückgebunden werden.[vi]

Die Gamification von Hass
Während die meisten Moderatoren meine Interviewanfragen ignorieren, ist Kyle bereit meine Fragen zu beantworten. Kyle gründete das Subreddit (eine Art Unterforum) als Scherz und Experiment. Es trägt den provokanten Titel «Frauenwahlrecht abschaffen» in Kombination mit einem frauenfeindlichen Begriff. Frauen das Wahlrecht zu entziehen sei keine Lösung für sein Incel-Dasein, schreibt Kyle, sondern vielmehr eine bewusste Provokation. Er bezeichnet das Vorhaben als ein Spiel namens «Ban Speedrun», bei dem sich Nutzer über andere Foren organisieren und kollektiv «Shitposting» betreiben bis Reddit einschreitet und das Unterforum sperrt. Ähnlich wie bei Trolling werden dabei frauenverachtende, provokative oder beleidigende Inhalte gepostet, um andere User:innen zu irritieren und in Diskussionen zu verwickeln.
Kyle versteht das Vorgehen zwar als Spiel, verkennt aber, dass Hassrede und misogyner Humor geschlechtsspezifische Ungleichheiten fortschreiben. Humor als spielerische, bewusst grenzüberschreitende Praxis sichert einerseits die Gruppen-Solidarität nach innen ab.[viii] Die Verflechtung von Humor und frauenfeindlichen Botschaften fungiert andererseits als effektives Mittel, um Macht auszuüben und männliche Dominanz zu bekräftigen.[ix] Letztendlich führt dies zu einer Verharmlosung und Normalisierung von Hassrede. Auf eigenen Servern gehostete Foren wie Incels.is wird die Hassrede gegen Frauen nicht entfernt. Auch auf Reddit unterwandern kreative Beleidigungen die automatisierte Moderation, sodass menschliche User:innen Beiträge melden müssen, bevor die Plattform tätig wird. Während die Gamification von Hass die Aussenwirkung der Incelosphäre massgeblich prägt, fungieren die Foren für ihre Zielgruppe als emotionale Zufluchtsräume.

Zusammen allein
«Ich glaube nicht, dass sich ein Incel jemandem anvertrauen und über seine Gedanken sprechen kann», schreibt Kyong, ein weiterer Interviewpartner. In Beiträgen und Kommentarspalten tauschen sich Incels über Hoffnungslosigkeit und die Sehnsucht nach Zuneigung und Intimität aus. Es gebe diese Foren, führt Kyong weiter aus, «damit einsame und jungfräuliche Männer über ihre Gefühle sprechen können. Ich denke, es ist eine Gruppe für einsame, verängstigte, verbitterte und psychisch kranke Männer, die im Leben gemobbt wurden und nun einen Ort mit Menschen gefunden haben, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben». Die Foren ermöglichen Incels sich über sensible und teils schambehaftete Themen wie sexuelle Unerfahrenheit auszutauschen, dennoch verschleiert Kyongs Beschreibung der Foren als Schutzraum und Resonanzraum das Gewaltpotenzial der diskursiven Praktiken und normalisiert Misogynie als vermeintlich legitime Reaktion auf subjektive Erfahrungen.
«Ich wurde […] gehänselt […], dass kein Mädchen mich jemals wollen würde [...] und am Ende hatten sie Recht. […] Ich verliere mit der Zeit immer mehr die Hoffnung», schreibt mir Diego, ein 23-jähriger Jura-Student, der sich regelmässig in Kommentarspalten austauscht. Für Diego ist es die unerfüllte Sehnsucht nach Intimität und einer romantischen Beziehung, die sein Unglücklichsein prägt und zugleich den Kern des Incel-Seins markiert. Carlos beschreibt diesen affektiven Zustand als ein Spannungsfeld zwischen Resignation und Sehnsucht: «Ich habe aufgegeben. Aber ich habe das natürliche Gefühl mit jemandem zusammen sein zu wollen. Ich unterdrücke das Gefühl, so gut ich kann.»
Die Alltagserfahrungen von Hoffnungslosigkeit und Resignation, die Diego und Carlos beschreiben, werden als Beleg für den Wahrheitsgehalt der Black Pill herangezogen. In der Binnenlogik der Black Pill wird die Situation als ausweglos imaginiert, die subjektive Erfahrung legitimiert und die Blaupause der Black Pill reproduziert und stabilisiert.

Erfahrungen und Weltbild
«Die Menschen verstehen einfach nicht, wie schrecklich das Leben ist, wenn man beschissene Gene hat», schreibt Max, der wie viele meiner Interviewpartner das Ausbleiben romantischer und sexueller Erfahrungen als Beweis für persönliche und genetische Minderwertigkeit deutet. In dieser Binnenlogik wird der Begriff Incel zu einer Selbstdiagnose, die zugleich entlastet und stigmatisiert: Sie erklärt individuelles Scheitern durch eine vermeintlich unveränderbare Naturordnung. Aussagen wie «Frauen sind oberflächlich und ziehen Aussehen einer Persönlichkeit vor» oder die Rede von der «genetischen Lotterie» reproduzieren nicht nur genetisch-deterministische Annahmen, sondern konstruieren das Incel-Sein als biologisch festgelegt und damit ausweglos.
«Wenn ich auf der Strasse bin, versuche ich, Frauen nicht einmal anzuschauen. Ich spreche nur mit ihnen, wenn ich muss», schreibt Carlos im Chat. Auch Gian vermeidet soziale Interaktionen und äussert sich ähnlich: «Mit Frauen und anderen zu reden, macht mich irgendwie fertig. Es erinnert mich daran, wie beschissen ich wirklich bin.» Die Vermeidungsstrategien verdeutlichen, wie die Black Pill zur selbsterfüllenden Prophezeiung wird und schreibt den Modus der Ausweglosigkeit fort.
Während meine Interviewpartner physische Gewaltfantasien explizit von sich weisen, erwähnen sie beiläufig wiederkehrende suizidale Gedanken zu haben. Neben der unerfüllten Hoffnung auf eine romantische Beziehung, wird Suizid als Ausweg aus einer als ausweglos imaginierten Situation verhandelt. Diese diskursive Normalisierung von Suizidgedanken verweist auf ein Element der «Incelosphäre»: die Überschneidung mit digitalen Suizidforen. So war Serge, Mit-Gründer und Administrator des grössten Incel-Forums, bis zur Veröffentlichung einer Recherche der New York Times zugleich Administrator von Sanctioned Suicide, einem Forum, das für seine offene, teils affirmativ geführte Debatte über Suizid und Methoden bekannt ist.[x] Diese inhaltlichen und teils personellen Verflechtungen verdeutlichen, dass die Incelosphäre nicht isoliert existiert.
Abschliessend ist festzuhalten, dass sich Emotionspraktiken und Weltbild gegenseitig stabilisieren. Das Narrativ des entmachteten Mannes wirkt mobilisierend und findet über die «Incelosphäre» hinaus Resonanz.[xi] Die Vorstellung von Geschlecht als naturgegebene, hierarchische Differenz fungiert dabei, wie Susanne Kaiser zeigt, als ideologisches Bindeglied zu anti-feministischen Diskursen.
Zitation
Ann-Marie Wohlfarth, Einsamkeit, Sehnsucht und Hass: Emotionspraktiken von Incels, in: das.bulletin, 08.12.2025, URL: https://ekws.ch/de/bulletin/post/einsamkeit-sehnsucht-und-hass-emotionspraktiken-von-incels.
