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«Oceans. Collections. Reflections. George Nuku» im Weltmuseum Wien

Das koloniale Erbe der europäischen Museen wird aus gutem Grund gerade vielerorts aufgearbeitet. Oft geschieht das halbherzig, manchmal gestenreich, nicht selten trifft beides zu. Der neuseeländische Künstler George Nuku hat sich für seine bisher grösste Einzelausstellung die Sammlungen des Weltmuseums Wien vorgenommen und dabei unter anderem die Geschichte um die österreichisch-ungarische Novara-Expedition der 1850er Jahre zum Ausgangspunkt des Nachdenkens gemacht. Eine intellektuell wie künstlerisch einmalige Ausstellung, die Brücken schlägt von der museal dokumentierten Kultur Ozeaniens zu hochaktuellen Fragen unserer Beziehungen zur natürlichen und sozialen Umwelt.

«Neulich im Museum» ist eine neue Kolumne von «das bulletin. Für Alltag und Populäres». Sie will den kulturwissenschaftlichen Blick auf die Institution Museum und das populäre Medium Ausstellung schärfen und dem nach wie vor vernachlässigten Genre der Ausstellungskritik einen Platz geben. Dazu erscheinen in loser Folge knappe Berichte von Besuchen in kleinen und grossen Museen des In- und Auslands, sichtbaren und weniger sichtbaren, solchen mit deutlicherem Bezug zur Kulturwissenschaft des Alltags und auch solchen, bei denen sich dieser nicht auf den ersten Blick erkennen lässt.

Wie weit können Museen, wie weit können insbesondere ethnografische Museen gehen, wenn sie ihre koloniale Vergangenheit kritisch aufbereiten und dennoch den Zeigewert ihrer Sammlungen nicht auf Selbstbezichtigung beschränken wollen? Diese und ähnliche Fragen beschäftigen gerade die Museen der Weltkulturen und -künste rund um den halben Erdball und haben in den vergangenen Jahren zu vielerlei Antworten geführt. Sie reichen von der Umdeutung der Objekte zu ästhetischen Zeugnissen über die radikale historische Dekonstruktion bis hin zur Delegierung der Aufarbeitung an eine zumeist kuratorische oder künstlerische Autorschaft und häufig für nicht mehr als punktuelle Interventionen. 

Der Weg, den das Weltmuseum Wien wenige Jahre nach seiner ohnehin mutigen und dennoch geschichtsbewussten Dauerausstellung mit der aktuellen Sonderschau von George Nuku geht, bringt eine neue, weil in mehrfacher Hinsicht überzeugende Antwort. Sie vereint Kunst und Information in raumfüllenden Installationen, lässt dabei den historischen Ozeanien-Sammlungen des Museums (und benachbarter Häuser) mehr Raum als manche klassische Präsentation und rückt damit die kulturellen Kontexte der Bestände auf geradezu immersive Art ins Heute.

Das Kanu als Raumschiff: Zeitreisen

Die Ausstellung – ein Parcours durch sechs Rauminstallationen – beginnt mit dem «Grossen Blau» des Stillen Ozeans. Sie erinnert damit nicht nur an die Verflochtenheit der pazifischen Kulturen, sondern mit ihren kunstvollen Displays aus massenhaft Plastikmüll zugleich an die Gefährdung dieses Lebensraums. George Nuku hat sich schon vor Jahren auf die Bearbeitung von Acrylglas spezialisiert, dem er durch Gravur und seitliche Beleuchtung faszinierende Lebendigkeit und Lichtspiele entlockt. Man glaubt gerne, dass er Plexiglas aufgrund seiner fossilen Herkunft für ein natürliches Material hält, dem mit Ehrfurcht zu begegnen ist.

Bildstark schickt Nuku zum Anfang drei Kanus auf den Weg. Sie sind als historisches Original zu sehen, tragen als Hybrid die fragmentarisch gesammelten zugehörigen Objekte und nehmen, nun ganz aus Plastik, symbolische Anleihe bei den traditionellen Kulten der Māori, um so zum Nachdenken über den Zustand der Ozeane und ihrer Kulturen anzuregen. Nach Bildquellen gestaltete lebensgrosse Figuren werden zu Objektträgern, und farbenfrohe und mit üppigen Styroporrahmen versehene Bearbeitungen historischer Illustrationen lassen in eine Welt eintauchen, in der die Grenzen zwischen Natur und Kultur förmlich verfliessen und Präsenzeffekte des Fernen und Anderen kaum ausbleiben. 

So ästhetisch ansprechend kann dekolonisierende Aufklärung sein: Georges Nukus Installation «Das grosse Blau» mit Fragmenten historischer Kanus und bearbeiteten Illustrationen aus der Zeit um 1880. (Foto: Bernhard Tschofen)

Man könnte sich in einer einfach nur stylisch gemachten Neuaufstellung eines völkerkundlichen Museums wähnen, wenn nicht schon im nächsten Raum die Frage nach der Herkunft solcher Sammlungen thematisiert würde. Nun geht es (ganz in Rot getaucht) um die «Jäger und Sammler» und damit nicht nur um die Hintergründe der vom Habsburger Erzherzog Ferdinand Maximilian (dem späteren tragischen Kaiser von Mexiko) initiierten Weltumsegelung der Fregatte Novara 1857–59, sondern auch um das Spiel mit der Blickumkehr: «The Native Observing the Colonizer Observing the Native» heisst die für die Ausstellung geschaffene bildlich-räumliche Installation, die auch die Besuchenden in die irritierende Situation involviert. Das Ganze geschieht in einer Art Studierzimmer, in dem wertvolle Objekte in PET-Gallonen neben Dokumenten zur Novara und der legendären Forschungsreise auf ansprechend verfremdete Exotika aus den Publikationen des wissenschaftlichen Expeditionsleiters Ferdinand von Hochstetter treffen: «Ein Cannibale aus früheren Zeiten» etwa oder ein «Maori-Mädchen vom Mangatawhiri» (1863).

«Der Einheimische, der den Kolonisator beobachtet, der den Einheimischen beobachtet»: Das Spiel mit Blickumkehr involviert die Besucher:innen. (Foto: Bernhard Tschofen)
Im Studierzimmer: Objekte der Novara-Expedition aus Wiener Museen in neuem Ambiente – George Nuku bearbeitet Acrylglas und PET-Flaschen mit moderner Technik und traditionellen Motiven. (Foto: Bernhard Tschofen)

Andere Ordnungen: koloniale Mitbringsel gegen den Strich gebürstet

Doch die Ausstellung beschränkt sich nicht auf Verlust und Eroberung, sondern nützt die umfassenden Hinterlassenschaften der frühen österreichischen Neuseelandforschung für eine zugleich berührende und äusserst lehrreiche Rekonstruktion der untrennbaren Verbindung von Natur und Kultur im Weltbild der Māori. Die Gestaltung des nun grünen Raums Te Aonehenehe stellt die Ordnung der in Wien nach westlichem Denken aufgeteilten Sammlungen wieder her und lässt in grossen Installationen und wiederum äusserst vielschichtig in Genealogien und Tauschsysteme, vor allem aber in indigene Konzepte wie die Wald- und Meereswelt eintauchen. Endlich versteht man, was es mit den zahlreichen kunstvollen Angelhaken aus Bein und Holz in den Ozeanienabteilungen der Museen auf sich hat – ein schönes Bild, dass sich in ihnen das Wissen verfängt. Und wieder bringt Nuku durch die Bearbeitung von Gemälden verborgene Auskünfte zum Vorschein.

Diesem Prinzip bleibt er dann auch in einem mit «Furchtlose Reisende» überschriebenen Raum treu, der im Zeichen des ausgerotteten halbmythischen Haastadlers Hokioi steht und mit aktualisierendem Blick die politischen Beziehungen Österreich-Ungarns mit Neuseeland thematisiert. Festgemacht wird dies an der bewegenden Geschichte der beiden in Wien ausgebildeten Māori Wiremu Toetoe Tumohe und Hemara Te Rerehau Paraone, die auf ihrer mitgebrachten Druckerpresse zumindest gegen die unrechtmässige Invasion des britischen Empire zu agitieren versuchten. Dekolonisierung und globale Verflechtungsgeschichten brauchen quasi ihre lokalen «Angelhaken».

Die beiden «Wiener Māori» Wiremu Toetoe Tumohe und Hemara Te Rerehau Paraone mit ihrem «Meister», dem Direktor der Hof- und Staatsdruckerei Alois von Auer-Welsbach: Bearbeitungen nach Fotografien um 1860. (Foto: Bernhard Tschofen)

Schöne Unterwelt, finstere Sammlungsgeschichte und ein versöhnliches Ende

Die Ausstellung «Oceans. Collections. Reflections.» lebt von Spannungen, und die Vorführung der Unterwelt der Māori als kultureller Ort, der Heimat der Völker ist und aus dem die wichtigsten Kunstformen – die Tätowiertechnik Moko und die Flechtwebereien Tāniko – ans Licht kamen, gelingt George Nuku auch in atmosphärischer Hinsicht. Gruselig sind in der von gleissenden Lichteffekten stimmungsvoll erhellten Schatzkammer nur die Geschichten hinter den Objekten – viele von ihnen wurden von skrupellosen Sammlern ihren kulturellen Kontexten entrissen. Trotzdem weiss Nuku, dass man im Museum nicht einfach ein neues Zeitalter ausrufen kann. Er sagt, «there is no such thing like postcolonialism» und denkt vielmehr in Kontinuen, die sich mit neuen Begriffen wie «postkolonial» nicht aus der Welt schaffen liessen, so lange der Kapitalismus den Kolonialismus als Business prolongiere.

Die Unterwelt als kultureller Ort: Von dort kommt auch die Tätowierkunst Moko, die für George Nuku die Beziehung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ausdrückt. (Foto: Bernhard Tschofen)

Dennoch findet die Ausstellung in einem abschliessenden Saal zu einem hellen und heiteren Ende. Er ist der Welt des Lichts Te Ao Marama gewidmet** und als Zusammenfassung angelegt, in der die wichtigen Themen der vorangegangenen Auseinandersetzung nochmals in dichten Installationen und Objekten präsent sind. Entlassen wird man nicht ohne Augenzwinkern, thront doch hier George Nuku in der Pose des kolonialen Sammlers, aber zugleich als Marionette der Vergangenheit. Das rückt nochmals das Spielerische dieser wundersam sinnlichen Ausstellung in den Fokus. Sie gibt sich zurecht als Kunst, aber zugleich als das Ergebnis ernster Arbeit – der intellektuellen kuratorischen Auseinandersetzung hinter den Kulissen – und nicht weniger wichtig als Produkt eines partizipativen Gestaltungsprozesses. Über 150 Freiwillige aus der Wiener Zivilgesellschaft haben mit Nuku über Wochen an der Herstellung der Displays und Rahmen gearbeitet. Vielleicht ist das fast noch wichtiger als das Ankommen neuer Sichtweisen auf schwierige Sammlungen im akademischen Museumsdiskurs.

Reflektiert augenzwinkernder Ausblick: Nochmals George Nuku als «Native» und «Colonizer» – indes am Gängelband der Vergangenheit. (Foto: Bernhard Tschofen)
Pandemische Reminiszenzen in der Wiener Hofburg: Coronaviren im Lichthof des Weltmuseums Wien – Kreativitätsüberschuss aus Plastik und Flaschen des szenografischen Workshops mit Laien. (Foto: Bernhard Tschofen)

«Oceans. Collections. Reflections. George Nuku» bis 31. Januar 2023 im Weltmuseum Wien, Heldenplatz, 1010 Wien.

Die Begleitpublikation zur Ausstellung (deutsch/englisch) mit u.a. Texten und Dokumenten zur Entstehung der Ausstellung sowie zahlreichen Abbildungen ist für € 20.– erhältlich: Reinhard Blumauer, Jonathan Fine, George Nuku (Hg.): George Nuku. Oceans. Collections. Reflections. Wien 2022.

Bernhard Tschofen

Bernhard Tschofen ist Professor für Populäre Kulturen an der Universität Zürich. Er war nach dem Studium der Empirischen Kulturwissenschaft und Kunstgeschichte in Innsbruck und Tübingen unter anderem im Museumswesen tätig, dann an der Universität Wien. Von 2004 bis 2013 hatte er eine Professur an der Universität Tübingen inne. Zu seinen Schwerpunkten gehören die Berührungsflächen von Alltags- und Wissenskulturen sowie raumkulturelle Fragen in Geschichte und Gegenwart. In der Kolumne «Neulich im Museum» berichtet Bernhard Tschofen für das bulletin von Besuchen in kleinen und grossen Museen des In- und Auslands und reflektiert das populäre Medium Ausstellung.
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