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Über Verzicht redet man nicht

25. November 2025

Verzicht gilt mal als unattraktive Zumutung, mal als Lifestyle-Attitüde. Welche Hunde schlafen hier, wie lässt sich diese Verzichtsaversion erklären? Darüber schrieben Timo Heimerdinger & Nina Degele in der aktuellen Ausgabe des SaVk. Wir haben ihnen drei Fragen gestellt.  

1. Nina Degele und Timo Heimerdinger, Verzicht ist doch eine ausgesprochene Schlechte-Laune-Vokabel, warum haben Sie sich damit beschäftigt? 

Wo so viel Abwehr zu beobachten ist, liegt der Verdacht nahe, dass damit auch etwas verdrängt wird. Wenn das Wort Verzicht fällt, denken viele eher an Verbot oder Lustfeindlichkeit. Die nähere Betrachtung zeigt jedoch, dass viele Menschen sehr wohl verzichten, es aber niemals so nennen würden. Dieses Spannungsverhältnis interessiert uns. Verzicht ist gängiger als zunächst vermutet. 

2. Ist die Rede von Verzicht dann aber nicht an eine saturierte gesellschaftliche Position voller Privilegien gekoppelt? 

Das gibt es, ja sicher. Instagram-Minimalismus und teure Tiny-Houses gehören sicherlich in diese Kategorie. Aber jenseits dieser Lifestyle-Themen gibt es auch Menschen, die früh ins Bett gehen, um am nächsten Tag besser trainieren zu können, obwohl sie vielleicht Lust auf Party hätten. Oder jene, die aus Überzeugung mühsame Reiseformen auf sich nehmen und dabei erstaunliche Entdeckungen machen.  Doch auch diese Menschen nehmen das Wort Verzicht nicht gerne in den Mund. Die Gründe dafür wollten wir herausfinden. 

3. Was hat Sie bei Ihrer Auseinandersetzung mit dem Thema am meisten überrascht? 

Verzicht klingt zunächst sehr aufs Individuum reduziert, hat aber ein enormes subversives Potenzial, weil es die Systemfrage stellt. Eine Wirtschaftsweise, die zentral auf den Konzepten Wachstum und Fortschritt fußt, ist mit Verzicht nicht vereinbar und wird dadurch herausgefordert. 

Hier geht es zum Artikel.

Timo Heimerdinger, Nina Degele: „Verzichtende, die nicht verzichten. Rekonstruktion einer diskursiven Unmöglichkeit“, in: Schweizerisches Archiv für Volkskunde / Archives suisses des traditions populaires,  (SAVk) 121 (2025/1), S. 89–104,  https://doi.org/10.5169/seals-1084215. 

Titelbild: Post des Vereins Terran e.V. auf Instagram vom 22. April 2022 https://www.instagram.com/p/CcTVvbGLQnF/

Zitation

Nina Degele, Timo Heimerdinger, Über Verzicht redet man nicht , in: das.bulletin, 25.11.2025, URL: https://ekws.ch/de/bulletin/post/ueber-verzicht-redet-man-nicht.

Nina Degele

Prof. Dr. Nina Degele lehrt und forscht in der Soziologie und den Gender Studies an der Universität Freiburg (D), findet Alltag spannend und interessiert sich für dessen Entselbstverständlichung. Das geschieht thematisch über Reisen, Klimawandel, Nachhaltigkeit und Verzicht, theoretisch über Intersektionalität, Heteronormativität, Praxeologie und rekonstruktiv orientierte Methoden.
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Timo Heimerdinger

Prof. Dr. Timo Heimerdinger forscht und lehrt am Institut für Empirische Kulturwissenschaft der Universität Freiburg (D). Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören die Themen Konsumkritik, Verzichtspraktiken und Postwachstum. Er interessiert sich dafür, was Menschen dazu bringt, in der Reduktion einen Gewinn zu sehen und wie sie darüber sprechen.
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