«Heimat. Auf Spurensuche in Mitholz» im Alpinen Museum der Schweiz
Über Heimat gab es schon viele Ausstellungen, ganz zu schweigen von den ungezählten kleinen Museen, die sich diesem Begriff einmal verschrieben und sich heute noch an ihm abzuarbeiten haben. Aber eine Ausstellung, die den drohenden Verlust von Heimat aktiv begleitet und zugleich Perspektiven auf mögliche Zukünfte und universelle Fragen des In-der-Welt-Seins eröffnet, gab es noch nicht. Das für seine partizipativen Zugänge bekannte Alpine Museum der Schweiz wagt das Experiment. 75 Jahre nach der Katastrophe der Explosion des Munitionsdepots und am Beginn der Sanierung und Absiedlung von Mitholz begibt es sich gemeinsam mit den Bewohner:innen auf Spurensuche.
«Neulich im Museum» ist eine neue Kolumne von «das bulletin. Für Alltag und Populäres». Sie will den kulturwissenschaftlichen Blick auf die Institution Museum und das populäre Medium Ausstellung schärfen und dem nach wie vor vernachlässigten Genre der Ausstellungskritik einen Platz geben. Dazu erscheinen in loser Folge knappe Berichte von Besuchen in kleinen und grossen Museen des In- und Auslands, sichtbaren und weniger sichtbaren, solchen mit deutlicherem Bezug zur Kulturwissenschaft des Alltags und auch solchen, bei denen sich dieser nicht auf den ersten Blick erkennen lässt.
Wäre da nicht das nach Art des Hauses gestaltete Entrée mit signalrotem Ausstellungstitel, Sprengsymbolen und der mahnend platzierten Frage «Was geht mich das an?», könnte man sich in einer Idylle wähnen. Die Ausstellung des Alpinen Museums der Schweiz (ALPS) beginnt mit einer seltsam harmlos anmutenden Modelleisenbahnlandschaft, und man muss schon genau hinsehen, um das Verstörende an dem Berner Oberländer Dorf zu erkennen, das da mit seinen Holzhäusern und grünen Wiesen harmonisch umfangen von einer Kehrschleife der Lötschbergbahn zur Besichtigung einlädt. Doch früher oder später gerät der bedrohlich wirkende Bergsturz in den Blick. Und sind nicht in einer Ecke bereits riesenhafte Bagger aufgefahren? Wenn man dann noch nach einem der Kopfhörer greift, weiss man: So ähnlich würde wohl auch ein Film von David Lynch über Mitholz beginnen. Mit einem Hörstück des Westschweizer Autors Antoine Jaccoud begibt man sich auf die Reise durch einen durchchoreografierten Parcours, der einen für die nächsten eineinhalb Stunden nicht mehr loslässt: «Willkommen bei uns, die von hier weggehen».
Nicht über Mitholz – mit Mitholz!
Die Idylle währt nicht lange, das ahnt man und findet sich jäh in einer Szene wieder, die man auch in den grossen zeitgenössischen Kriegsmuseen antreffen könnte. Berstendes Holz und fliegende Gesteinsbrocken rahmen hier aber zugleich ein kleines musée sentimental im besten Wortsinne, ein Arrangement, in dem sich der Blick auf die letzten Erinnerungsstücke an diesen ominösen 19. Dezember 1947 richtet, an dem Mitholz aufhörte ein ganz normales Dorf zu sein. Einzelne Gegenstände, die nach den gewaltigen Detonationen aus den zerstörten Häusern gerettet wurden oder den Familien als Andenken an die neun bei dem Unglück getöteten Personen geblieben sind, vor allem aber die mit den Objekten verbundenen Erinnerungen lenken die Aufmerksamkeit auf Erfahrungen und machen unmissverständlich klar, dass hier Geschichte und Gegenwart aus der Perspektive der Bewohner:innen erzählt werden. Sie kommen in dieser Ausstellung fortwährend zu Wort. Korrespondierend damit helfen kluge Statements von Expert:innen wie etwa des Zürcher Historikers Jakob Tanner bei der Einordnung der Ereignisse in die Kontexte der schweizerischen Nachkriegszeit.
Die Ausstellung denkt und argumentiert von den Menschen und vom Handeln her. Und so ist nach dem Thema «Erinnerung» auch das Thema «Explosion» nach Verben sortiert, die auf wichtige Praktiken verweisen: «überblicken», «aufräumen», «untersuchen» u.a.m. Das mag heute im Ausstellungswesen naheliegend erscheinen, ist hier aber besonders überzeugend umgesetzt. Die versammelten Dokumente – Bilder, Texte, Zeitungs- und Filmausschnitte – ermöglichen nämlich eine sehr gute Einordnung der Ereignisse und helfen zu verstehen, warum der eilige Wiederaufbau von Mitholz auch zur Verdrängung der Gefahr beitrug. Schade, dass die vom Schweizerischen Heimatschutz begleitete (und mit dem Verkauf von «Schoggitalern» unterstützte) Planung mit ihren schmucken, stattlichen Häusern nicht weiter vertieft wird. Mit einer Trias von Holz, Haus und Dorf wurden hier gewissermassen auch Wunden gekittet und Gemeinschaft wiederhergestellt, Heimat eben. Eine vom Ausstellungsteam in Originalgrösse als Frottage abgenommene Hausinschrift – der Ortspfarrer hatte diese für die mit den Häusern wiedererrichtete Tradition getextet – gehört zu den besonders eindrücklichen Exponaten dieser Ausstellung.
Ob man sich vorstellen kann, sein Zuhause zu verlassen, wird man dann auch im Schatten der sinnbildlich schwebenden Wurzeln eines in Mitholz umgewehten Baumes (aus dessen Holz wie aus so vielen Objekten im Ort zunächst noch Munition entfernt werden musste) gefragt. Doch zuvor passiert man eine Art Informationsstollen. Hier geht es um das «Risiko», das von den tausenden Tonnen explosiver Rückstände ausgeht. Sie sind neben und nach der Nutzung der gigantischen unterirdischen Anlage als Armeelager, Militärspital und -apotheke im Berg verblieben und sind nicht nur potentiell explosiv, sondern auch hochgradig umweltschädigend. Beklemmende Filmsequenzen und Hörstationen begleiten einen wiederum an eine spielerische Station, an der sich fast schon im Jargon des VBS (Eidgenössisches Departement für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport), das 2020 die Absiedlung verordnet hat, an der «Variantenevaluation» teilhaben lässt.
Ins Nachdenken über Heimat verwickeln
Die Ausstellung des sich als «Gegenwartsmuseum» verstehenden Hauses will also verwickeln und hat daher nicht nur mit sieben Personen aus der Gemeinde als lokalen «Expert:innen» eng zusammengearbeitet, sondern auch nach Möglichkeiten gesucht, die Besucher:innen an dieser vielstimmigen Erzählung teilhaben zu lassen. Daher zieht sich neben den Dimensionen von Erfahrung und Information auch jene der Fragen jenseits des «Falls Mitholz» durch die Ausstellung. Sie thematisieren auf luftigen Transparenten das Universelle des Themas von Beheimatung und Vulnerabilität – pointiert und zur Reflexion anregend zwar, doch darf man fragen, ob es das überhaupt braucht. Denn die Bilder der Ausstellung sind so stark, dass sich diese Fragen so oder so einstellen.
Dazu tragen neben der dauernden Präsenz der Betroffenen auch die starken Emotionen der von Karin Bucher verantworteten Szenografie bei: Das im «Hodlersaal» des Museums aus kreisrund positionierten Lautsprechern intonierte Abschiedslied an den Ort «Läb wohl Mitholz» geht unter die Haut, auch wenn man den Auftritt von Frauen und Männern aus Mitholz und dem Umfeld des Projekts nicht live an der Ausstellungseröffnung erleben hat können: «Mir müesse gah…».
Ein Abschied mit Emotion, Reflexion – und einem Augenzwinkern
Wie den Jodeltönen im Lied eignet der ganzen Ausstellung weniger Pathos als auch Witz und vor allem Zuversicht. Das zeigt sich besonders in dem in der oberen Etage ausgebreiteten «Archiv», in dem die Besucher:innen im Angesicht einer Sammlung von Zahlen, Objekten und Erinnerungen gefragt werden: «was bedeutet für Dich Heimat?». Konfrontiert aber werden sie dabei mit einem durchaus augenzwinkernd zusammengetragenen Inventar, das u.a. Holzbeigen, Kinder, Landmaschinen und Basarhelferinnnen erfasst und die Ergebnisse der Suche nach den Farben, Gerüchen und Stimmungen von Mitholz präsentiert. Noch einmal werden Bewohner:innen fotografisch in und mit ihren Häusern portraitiert, die sie bald für eine ungewisse Zukunft verlassen werden.
Doch «Heimat» will nicht nur Spuren suchen und sichern, sondern auch Spuren legen und vor allem zum Nachdenken anregen, wie es weitergehen könnte. Auch hier findet die Ausstellungsgestaltung die passenden Bilder. Sie lädt an einen grossen Tisch, an dem wie in einem gemeinsamen Workshop Zukunft verhandelt werden kann. Dass dabei geschickt die Reflexion der Arbeit des Projektes selbst ihren Platz findet und wiederum allgemeine Fragen nach Krise und Resilienz im Raum stehen, macht die von Barbara Keller beispielhaft kuratierte Präsentation auch methodisch und theoretisch relevant. Trotzdem wird die Ausstellung zum Ende hin mit der Frage «Kannst Du Dich ins Jahr 2040 denken?» verständlicherweise etwas wortkarg, auch wenn sie mit einer abschliessenden Feedback-Station noch einmal bewusst zu involvieren sucht. Das alles ist gut gemacht, besonders berührend bleibt dann aber allemal das beiläufig gestaltete Plakat, das bereits ausserhalb der eigentlichen Ausstellungsräume zum «50. und letzten Mitholzer Basar» (er hat mehr Helferinnen als der Ort Kinder) einlädt.
Das Alpine Museum der Schweiz versteht sich als «offenes Haus der Berge», das sich nicht scheut, Themen von politischer Brisanz anzufassen. Mit seiner Spurensuche nach Heimat ist ihm jedenfalls ein weiterer wichtiger Schritt in Richtung eines neuen Museumsverständnisses gelungen – inhaltlich vielstimmig und in der Umsetzung konsequent multimodal, gelingt es der Ausstellung dank ihrer nahegehenden Sprache ausgehend vom Drama eines kleinen Ortes an die ganz grossen Fragen unserer Gegenwart heranzuführen. Eine kuratorische Glanzleistung, der wie Mitholz selbst die vertiefte öffentliche Auseinandersetzung gebührt.
«Heimat. Auf Spurensuche in Mitholz» bis 30. Juni 2024 im Alpinen Museum der Schweiz, Helvetiaplatz 4, 3005 Bern.
Das zur Ausstellung erschienene Journal «Mitholz. Über Heimat nachdenken» mit u.a. sechs Essays, Dokumenten zur Chronologie und dem Text des Hörstücks von Antoine Jaccoud ist im ALPS erhältlich.